Bücher und “Bücher”
Wozu brauche ich Literatur? Wozu brauche ich Romane und Kurzgeschichten und Gedichte und Theaterstücke? Wozu lese ich? Ich lese ja ständig. Gelesenes bevölkert meinen Kopf und ich bin mir äusserst bewusst, dass es dabei gar nicht so sehr oder nur um die Geschichten geht, die sie erzählen. Es geht um Figuren, Namen, Sätze, Wörter, stilistische Wendungen, und wie sie auftreten und daherkommen, wie sie meinen Kopf bevölkern. Was würde ich tun ohne sie? Ich würde mir meine eigenen erfinden müssen und das habe ich sicher immer auch getan und tue es immer noch, ständig.
Ich lese aber auch ständig “Wissenschaftliches”, ich lese Gedanken aus der Mathematik, Physik und vor allem Astrophysik, und versuche mich mit ihnen vertraut zu machen. Dabei wird jedoch klar, dass es da einen Unterschied gibt. Die Inhalte der Mathematik sind nicht auf stilistische Feinheiten angewiesen. Es hilft, wenn sie gut formuliert sind, es ändert aber nichts an ihrer Wahrheit, falls sie humpelnd und unbeholfen daherkommen. Aber da würden die besten Mathematiker sicher vehement widersprechen wollen, denn ich nehme an, dass auch in der Mathematik Eleganz eine Rolle spielen kann und dass es für Alles und Alles verschiedene Weisen der Darstellung gibt. Leider ist mir die Schönheit der Mathematik verschlossen geblieben und das gehört zu den traurigen Dingen in meinen Leben. Ich kann mir nämlich sehr gut vorstellen, dass es diese gibt, und ich denke, dass das mit der Musik zu vergleichen ist, die auch sehr vielen verschlossen ist.
Ich muss davon ausgehen, dass sehr viele Menschen ohne Romane und Gedichte auskommen und dass sie ihren Kopf sicher ganz anders bevölkern als ich. Ich muss auch davon ausgehen, dass es ganz neue Inhalte und ganz neue Verfahrensweisen gibt, die die Köpfe von viel jüngeren Leuten bevölkern. Ich spiele keine Computerspiele, ich kann mir aber sehr gut vorstellen, wie deren Inhalte die Köpfe von Millionen bevölkern. Ich nehme aber an, dass diese Inhalte viel mehr strategische Anforderungen stellen und nur in begrenztem Ausmass dem nahekommen, was ein Roman einem nahebringt.
Was bringt er mir nahe? James Joyces “Ulysses” ist ja kein Buch, das man so einfach lesen könnte. Dasselbe gilt für Dantes “Göttliche Komödie”, Shakespeares “Macbeth”, Miltons “Paradise Lost” oder Prousts “A la recherche du temps”. Bei Gedichten wird’s noch offensichtlicher. Sogar oder besonders die Einfachsten Gedichte wie die Goethes, Eichendorfs oder Heines erfordern enorme gedankliche Anstrengung, wenn man ihnen wirklich nahe kommen will, ganz zu schweigen von schwierigen Dichtern wie Paul Celan oder Keats und Yeats und Malarme.
Der Kopf, oder wenigsten mein Kopf, wird sehr anders bevölkert, wenn ich mich auf “Literatur” einlasse.