Irene Braune (1918 – 2015)

 

Was bleibt von Dir? Was bleibt von uns wenn wir gegangen sind? Es gibt viele Leute, die uns nahelegen, an etwas sehr Gewisses zu glauben. Diese Gewissheiten sind mir fremd. Ich habe dennoch eine Antwort auf diese Fragen. Ich habe meine eigene Antwort: Was bleibt ist Erinnerung, und sie gibt es, solange es jemand gibt, der sich erinnern kann und will.

Ich hörte von Deinem Tod und ich stellte mir vor, wie Du wortlos gehen könntest. Nicht weil niemand an Deinem Grab reden würde oder wollte, sondern weil alle, die Dich kannten, von Deiner Abneigung gegen grosse Worte und besonders religiöse wussten. Ich möchte nicht, dass Du ganz wortlos gehst.

Welche Worte würden Dir gefallen? Das weiss ich auch nicht, aber ich kann mir vorstellen, dass es Dir gefallen würde, erinnert zu werden.

In meiner spontansten und ersten Erinnerung, oder in dem, was mir da zuerst in den Sinn kommt, warst Du immer gut zu mir. Ich hatte immer den Eindruck, dass Du mich mochtest und auch respektiertest, und ich weiss auch, dass Du denselben Eindruck von mir hattest. Wir waren eigentlich immer gut zueinander und es ist interessant, wie hinter diesem Gedanken alle anderen Erinnerungen verblassen, die ich jetzt auch aus dem Archiv hervorbringen könnte. Dennoch tauchen die dann auf und wenigsten einige will ich erwähnen.

Wir haben oft zusammen gelacht über unsere schrecklichen Migränen, wenn der Föhn übers Dach blies und uns speiübel war und ich mich ins Bett verkriechen und die Vorhänge zuziehen musste. Du hast immer gekichert über meine üblen adoleszenten Anspielungen auf alles, was sich unter der Gürtellinie abspielt und Du hast mich nie auf den Gedanken kommen lassen, dass Du mich nicht gern sehen würdest. Du hast immer auch gerne für mich gekocht, und ich habe gerne gegessen, was Du gekocht hast. Ich war auch sehr gern in Deiner Küche und in Deinem Haus. Ich war gerne bei Dir zu Hause.

Ich wusste ja nicht viel von Dir und Deinem Leben, weil einem in der Jugend das Alter als etwas Leichtes vorkommt  und man noch wenig Einfühlungsvermögen und vor allem Lebenserfahrung hat. Heute sieht das schon sehr anders aus und im Nachhinein kommen einem auch die eigenen Eltern viel mutiger und tüchtiger und bewundernswerter vor als man sich das als junger Kerl vorstellen konnte.  Es war mir dennoch schon klar, dass Dein Leben nie einfach war und dass Du Erfahrungen in Dir herumtrugst, die Dich mit Bitterkeit und Enttäuschung eingedeckt und tiefe Spuren hinterlassen hatten.  Ich habe ja auch mitgekriegt, wenn Du ins Schleudern kamst und wenn Du Dich auf Dinge eingelassen hast, die Dir dann wohl über den Kopf gewachsen sind. Aber darin warst Du ja nicht so anders als ich selber, vielleicht wir alle, wenn wir uns übernehmen, wenn wir uns verlaufen und verrennen und wenn wir Schaden anrichten. Dennoch, wenn man das doch einigermassen überlebt, dann verdient man schon eine Medaille und ich würde Dir noch gerne eine Medaille geben wollen, allein schon fürs Durchhalten, für den unbändigen Lebenswillen, für Deine ganz spezielle Tapferkeit, mit der Du Dich da durchgekämpft hast, sogar dann noch, wenn es für Aussenstehende keinen Sinn mehr zu machen schien. Wer hat denn schon das Rezept fürs richtige Leben?  Dass Du auf Deine Weise zäh warst, das finde ich letztlich schon sehr gut und beeindruckend und Zähigkeit ist schon notwendig, wenn man sich einigermassen behaupten will gegen das, was einem das Leben so zumutet. Vielleicht ist es doch das einzige Leben, das wir in dieser erschreckenden Weite und Unendlichkeit haben, und dann ist es vielleicht doch besser, es so lange zu leben, wie es halt lebt.

Du bist in derselben Woche gestorben wie der Vater von Polly. Ihr seid beide 96 Jahre alt geworden, und auch er war in den letzten Jahren nur mehr ein Schatten seines früheren Selbst. Auch er hat lange weitergelebt, hat sein Leben zuende gelebt, bis es nicht mehr leben konnte. Wie er hast auch Du Dein Leben zuende gelebt und so war das einfach und so war es dann auch gut. Dazu brauchen wir aber viel Hilfe, und die habt Ihr beide immer gehabt. Darüber bin ich froh und dafür bin ich dankbar. Es hilft auch uns, den Überlebenden, den Zurückgebliebenen, den Nachfolgenden, wenn es uns gelungen ist, Platz zu machen für die Schwierigkeiten des Lebens und für all das, was wir uns so nicht vorgestellt hatten und von dem wir eigentlich auch nichts wissen wollten. Das Leben ist halt ganz anders.

Ich nicke Dir zu, mit mehr als einer Träne im Auge. Du hast mich immer “grosser Meister” genannt, und ich habe diesen Namen gemocht und mag ihn immer noch. Er braucht Dein Kichern im Hintergrund, um ganz zu seiner Geltung kommen zu können.  Im Kopf und im Herzen dieses “grossen Meisters” bleibst Du lebendig bis auch er seinen Abschied nehmen muss und anderen die Aufgabe des Erinnerns zufällt.

Christoph