Bachs Unverdaulichkeiten: Inventionen und Sinfonien

 

Ohne Zweifel erhabenste Studien und Exerziergelände für jeden Pianisten, der etwas auf sich hält. Wenn man sich an ihnen so lange abgearbeitet hat, daß man sie relativ gut meistert, auch an ihre schwierigsten Stellen, dann hat sich dabei ein Grad an pianistischer Kompetenz herausgebildet, von der man selber überrrascht ist, und die man anders wohl kaum hätte erreichen können.

Sie werden bei Beerdigungen gespielt, wobei sich die trauernden Hinterbliebenen wohl Trost von dieser Musik versprächen. Als ob sie wirklich Trost spenden würden. Wenn ich sie bei Beerdigungen höre, fühle ich viel eher Verzweiflung als Trost, weil diese Musik … Sie wird mittlerweile auch in Tiefgaragen gespielt und in dieser Umgebung wird ihr noch der Rest von dem, was man ihnen abgewinnen könnte, ausgetrieben.

Sehr eigenartige Musik, wenigstens für mich und meine Ohren. (Ich spiele sie übrigens alle und recht gut, und brauchte Jahre dazu, und sie haben mir enorm dabei geholfen, ein guter pianistischer Handwerker zu werden. Ich weiss auch, dass mich oft die technische Problematik dieser Stücke mehr interessierte als die Musik als solches und ich weiss auch, dass kaum eine andere Partitur einem Pianisten auf die Sprünge helfen kann. Wer sie gut spielt, alle, der kann sich durchaus als “Pianist” bezeichnen. Dabei hat er vielleicht total die Musik vergessen und das ist durchaus auch gut so.)

Über die Jahre, während meine Familie sie immer weniger ertragen konnte,

Dann jedoch, nach diesen für sie unerträglichen Jahren meiner wiederholten Einübung, kam es zu überraschenden Reaktionen, auf beiden Seiten: War es meiner wachsenden Spielkompetenz zuzuschreiben, oder der wachsenden Vertrautheit mit diesen Stücken, oder einer immer wieder beeindruckenden und wachsenden Liebe zu etwas immer mehr Vertrauten: Da gab es dann Aussagen wie “eigentlich sehr schön”, “du hast große Fortschritte gemacht”. Hatten wir alle Fortschritte gemacht? Hatten wir etwas erst lernen müssen, oder hat hier der Effekt der Urvertrautheit eingesetzt, die einen sogar die schwierigste Umgebung nahe ans Herz bringt?

Berühmte Aufnahmen, oder Aufnahmen von berühmten Pianisten, die mittlerweile zu den … Gustav Leonhardt, unerträglich, metronomregierte

Am Ende bleibt ein Rhythmus übrig, der keiner ist, weil er allzu sehr an das Ticken eines Metronoms erinnert, und weil in ihm nichts mehr atmet von dem, was sich innerhalb des Regelhaften abspielt. (Es war wiederum Adorno, der hier höchst einsichtig von dieser Dialektig zwischen Regelmäßigkeit und Subjektivität gesprochen hat.)

II. Goldberg Variationen

Sogenannte Kenner und Melomanen werden mich schlachten, wenn ich sage, daß sogar oder besonders nach dem 100-erdsten Hinhören einige der Goldbergvariationen “unerträglich” sind. Auf alle Fälle demolieren sie gründlichst jegliche Mythenbildung, die diese Variationen mit den Bedürfnissen eines Schlafbehinderten in Verbindung bringen möchten. Da gibt es oft nichts beruhigendes in diesen Variationen, eigentlich viel eher das Gegenteil. Eine Unruhe und Aufgeregtheit und manische Beschäftigung, die mich immer noch mit Unruhe anfüllt. Oder, müßte man Bach eigentlich ganz anders spielen. Ganz wenige sogar unter den größten Pianisten entkommen dieser Unruhe oder metronomischen Aufgeregtheit, und eigentlich haben mich bisher nur zwei davor gerettet: Der späte Glenn Gould und Murry Perraiha.

Bei Andras Schiff stoße ich auf Momente einer inneren Ruhe, wie sie durchaus in der Partitur erkennbar ist, aber allzu oft auch auf eine total übertriebene und aufgeregte Schnörkelei, die dann wieder alles zunichte macht, was mir vorher noch gefallen hat. So in Variation XIII, die von Ruhe und innerer Größe nur so strotzt, falls man ihr nicht ein allzu großes und geschwindes Tempo aufzwingt. Besonders, wenn die darauffolgende großes Tempo und artistische Brillanz durchaus vertragen kann und ein sehr gutes Gegengewicht darstellt.

Gehetzt komme ich mir vor, und kann gar keinen besseren Ausdruck für meinen inneren Zustand beim Zuhören finden und da will dann einer schnell wieder zum Zug kommen und eilt im Geschwindschritt durch die schönsten Passagen, in denen sich etwas zeigen könnte, wenn man ihnen nur ihrem Raum geben würde.

Was mich natürlich vor allem verblüfft, das ist die Tatsache, daß es die großen Musiker sind, die sich aus meiner Sicht derartig gefühlslos auf diese Partituren einlassen; aber, vielleicht sind diese Partituren auch selber nicht unschuldig daran, und da sehen wir dann einen J.S.Bach, der eben auch eine gewaltige Antriebswelle in sich trug und dabei der metronomisch-manischen Lebensbejahung nicht entkommen konnte.